Europäischer Tag der Justiz 2014
Thema "Prozessschwund im Zivilprozess"
Seit 2004 ließ sich bei den erstinstanzlichen Zivilgerichten in Deutschland ein beständiger Rückgang der Eingangszahlen beobachten. Bundesweit wandten sich in den letzten zehn Jahren ca. 23% weniger Rechtsuchende an die Amtsgerichte. Bei den Landgerichten gab es ein Minus um ca. 19%. Dort waren besonders die Kammern für Handelssachen betroffen. Für das Land Sachsen-Anhalt wurden in diesem Zusammenhang sogar nahezu 40 bis 50% weniger Zivilprozesse genannt. Im Jahr 2013 kam es an den Amtsgerichten Sachsen-Anhalts im Vergleich zu 2006 zu ca. 23% weniger erstinstanzlichen Zivilverfahren. Die Anzahl der Verfahren erster Instanz bei den Landgerichten sank im gleichen Zeitraum um rund 28%.
Über die Ursachen dieses Prozessschwundes diskutierten anlässlich des europäischen Tages der Justiz 2014 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Richterinnen und Richter sowie Vertreterinnen und Vertreter der Justizverwaltungen und einer privaten Schlichtungsstelle am 13. November 2014 im Oberlandesgericht Naumburg.
Aufgeworfene Fragen waren dabei: Sind die Zahlen Ausdruck eines wachsenden Misstrauens gegenüber den staatlichen Gerichten, weil man sie nicht mehr für in der Lage hält, immer komplexer werdende Streitigkeiten in angemessener Zeit zu überschaubaren Kosten zu bewältigen, und (warum) fühlt man sich bei privaten Schlichtungsstellen, verhandelnden Rechtsanwälten, Mediatoren und Schiedsgerichten besser aufgehoben? Hat sich ein nachfrageorientierter Justizdienstleistungsmarkt entwickelt, auf dem sich die Zivilgerichte einer Wettbewerbssituation ausgesetzt sehen und hat die Rechtsprechung bereits jetzt Boden und viel Ansehen verloren? Oder nehmen wir einen begrüßenswerten Rückzug des Richters wahr, der es ihm gestattet, sich auf Kernaufgaben zu konzentrierten, und den Akteuren des Zivilrechtsverkehrs (noch mehr) die Möglichkeit bietet, eigene streitbewältigende Akzente zu setzen? Muss dem Prozessschwund durch Steigerung der Attraktivität des gerichtlichen Rechtsschutzes entgegen gewirkt werden oder besteht überhaupt kein Anlass, über die Funktions- oder gar Wettbewerbsfähigkeit der Justiz nachzudenken? Der 70. Deutsche Juristentag hatte sich 2014 mit der Frage beschäftigt, ob die ZPO und das GVG noch zeitgemäß sind. Nach seinen Vorstellungen sind die Gerichte mit Hilfe des Gesetzgebers zu spezialisieren und zu flexibilisieren. Das Verfahren sei zu reformieren. Reicht das aus oder geht dies nicht weit genug?
Prof. Dr. Burkhard Hess aus Luxemburg führte in das Thema mit Bemerkungen zur Situation und Zukunft der Ziviljustiz in Europa ein. Es folgten Länderberichte
- zu Österreich durch Frau Senatspräsidentin Dr. Brigitta Hütter, Linz,
- zu Deutschland durch Herrn Präsidenten des Oberlandesgerichts Naumburg Winfried Schubert
- zu Spanien durch Frau Prof. Requero-Isidro, Luxemburg
- zu Frankreich durch Herrn Präsidenten des Berufungsgerichts Dominique Gaschard, Poitiers und
- zu Luxemburg durch Herrn Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Luxemburg Georges Santer
Der Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig a.D. Edgar Isermann erläuterte anschließend die Arbeitsweise der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr in Berlin.
Deutlich wurde, dass sich die Lage der Justiz in Europa durchaus nicht einheitlich darstellt. Gehen in Deutschland und Österreich die Eingangszahlen in zivilrechtlichen Verfahren teils dramatisch zurück und wird dies vor allem in Deutschland eher mit Sorge zur Kenntnis genommen, sehen sich die Gerichte Spaniens, Luxemburgs und Frankreichs mit stabilen oder steigenden Eingangszahlen konfrontiert. Fürchten die einen um die Bedeutung, das Ansehen und die Funktion staatlicher Gerichte, ist für die anderen die Entlastung des Richters von privat zu bewältigenden Streitigkeiten notwendige Voraussetzungen, um durch Konzentration auf die schwierigeren und bedeutenderen Fälle die Autorität der Justiz zu stärken. In den Ländern, in denen die Eingangszahlen steigen (Frankreich, Luxemburg), setzt man deshalb große Hoffnungen in ein im Aufbau befindliches (Frankreich) oder weiterzuentwickelndes (Luxemburg, Spanien) System der alternativen außergerichtlichen Streitbeilegung.
Nach den Beiträgen und einer angeregten Diskussion ließ sich zusammenfassend feststellen, dass sich auch die Gerichte in einem veränderten Umfeld bewegen und mit Neuem konfrontiert sehen. Kennzeichnend seien das immer komplexer werdende (EU-) Recht, der schwierige sich differenzierende und spezialisierende Rechtsanwaltsmarkt, die Tendenz zur Ausdifferenzierung des Verfahrensrechts, vermehrte Formen alternativer Streitbeilegung, die ohne sachverständige Hilfe kaum noch mögliche Sachaufklärung und das durch moderne Technik und Medien geänderte Arbeitsumfeld der Juristen. Es sei (politisch) zu entscheiden, welche Rolle die rechtsprechende Gewalt hier einnehmen oder behaupten solle. Justiz sei kein Konsumgut. Die Bedeutung der rechtsprechenden Gewalt werde umso kleiner ausfallen, je weniger man bereit sei, in die Gerichte zu investieren. Die untere Grenze ziehe der Justizgewährungsanspruch zur Durchsetzung privater Rechte. Es gehe vordergründig also nicht um eine Privatisierung der Zivilrechtsprechung, sondern um staatlich zu garantierende Rechtsdurchsetzung. Genügen die Gerichte dem heute und morgen? Was ist im Interesse der Rechtsuchenden zu tun?
Der europäische Tag der Justiz am Oberlandesgericht Naumburg konnte nicht auf alle aufgeworfenen Problemfelder abschließende Antworten geben. Als Ergebnisse können aber festgehalten werden:
- Wenig sinnvoll sind Maßnahmen, die auf eine bloße Entlastung der Gerichte ausgerichtet sind und die Verkürzung des gerichtlichen Rechtsschutzes in Kauf nehmen.
- Der Zugang zu den Gerichten muss möglichst einfach sein, was beispielsweise für Länderöffnungsklauseln nicht zutrifft. Auch der Erhöhung der Gerichtsgebühren sind Grenzen gesetzt.
- Alternative Formen der Streitbeilegung und -entscheidung verringern die Zahl der gerichtlichen Verfahren. Sie sind Mittel der Entlastung und werden nicht zur Konkurrenz, wenn Politik und Justiz die sich bietenden Freiräume zu nutzen wissen. Stets muss es möglich bleiben, die staatlichen Gerichte anzurufen (Letztentscheidungskompetenz des Staates).
- Nötig sind nicht nur Änderungen der ZPO oder des GVG. Die Justiz hat ein Imageproblem und eine Modernisierung dringend nötig, die sowohl der Innen- als auch der Außenwahrnehmung zugute käme.
- Aufmerksamkeit verlangen vor allen Dingen:
- der elektronische Rechtsverkehr,
- die IT-Kompetenz aller Mitarbeiter,
- die Fachkompetenz und Motivation der Richter,
- die Flexibilisierung und Spezialisierung.